aus der neuen welt
Von der ausgiebigen Musik und Bücherstöberei aufgewärmt stehe ich unter der Arkade und packe die Ernte der letzten zwei Stunden in meinen Rucksack. Ein strohblonder Steppke beobachtet argwöhnisch mein Tun. Der Kindersitz auf der Stange des roten Fahrrades begründet seinen Eigentumsanspruch. Der dazugehörige Pappi steht vis â vis und raucht. Sein wohlwollender Blick verrät mir, daß er das Mißtrauen seines Jungen nicht teilt.
Ich möchte das Fahrrad auch gar nicht im Schutz der vorbeifließenden Menschen entwenden, benutze es nur als „Packtisch“. Schließlich ist auch der Kleine von meinen lauteren Absichten überzeugt.
Draußen beginnt es zu regnen und Dvorzâk fügt sich so nahtlos in die Stimmung, daß ich stehenbleibe und eine Zigarette anzünde.
So stehe ich da und lausche gebannt dem Klang der Violine.
Die Summe des „nicht silbernen“ Kleingelds in meiner Hosentasche ergibt eine Mark und dreißig. Ich nehme ein Zweimarkstück dazu und werfe die Münzen nach einer weiteren Zigarette in den Geigenkasten.
„Dziękuję“.
Der Dank, die abgewetzte Lederjacke, der Seitenscheitel über dem freundlichen Dreiecksgesicht, immer noch spielend sendet der Geiger polnische Freundlichkeit.
Viele Leute gehen einfach vorbei, scheinbar ohne die Musik zu beachten, andere geben ihren Kindern ein paar Groschen.
„Dziękuję“.
Eine weitere Zigarette später ist das Stück zuende.
Piotr wärmt sich die winterklammen Finger. Als ich mich zum Gehen wende sagt er: „Sie lieben Dvorzâk! Ich kann das sehen…“
Im Eiscafé am Bahnhof Friedrichstraße erfahre ich bei Espresso und Wodka, daß Piotr aus Lodsz kommt und ausgebildeter Orchestermusiker ist. Er hat eine Menge von der Welt gesehen und ist Ende der Neunziger für eine Zeit in den USA hängengeblieben. Engagements in Philadelphia und Chicago, bis Ihm ein Taxifahrer die Hand in die Tür klemmte und drei Finger brachen.
Das war im vorigen Jahr.
Das Gesparte genügte für den Rückflug nach Europa und wird wohl auch noch eine Weile das Zimmer im Männerwohnheim finanzieren. Die Finger sind verheilt, aber für die „hohe Kunst“ wird es wohl trotz all der harten Arbeit des vergangenen Winters nicht mehr reichen.
Die Jacke, der Seitenscheitel, das Dreiecksgesicht und die Wärme des zweiten Wodka senden polnische Traurigkeit.
Piotr muß gehen. Das Kulturkaufhaus ist gut besucht samstags und dort draußen unter der Arkade, wo der Regen nicht hinkommt wartet der zweite Satz:
